Vin Mariani – Koka Wein als Tonikum

Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts erinnert den gegenwärtigen Betrachter in der Retrospektive in vielen Entwicklungen an unsere Zeit. Es war eine Zeit rapider Umbrüche, politische Systeme änderten sich, die Wirtschaft revolutionierte sich und der Kapitalismus wurde zum Leitmaxim. Die Räume der Menschen verdichteten sich, nicht nur durch Urbanisierung, sondern auch durch bis dato unbekannte Mobilität. Die neuen Kommunikationsmöglichkeiten veränderten ebenfalls maßgeblich die Wahrnehmung von Raum. Die Kunst emanzipierte sich von den Vorgaben der Akademien. Und die Wissenschaften waren nicht nur Innovationskraft für neue Erfindungen, sie prägte auch das Denken.

Dieses Jahrhundert war auch ein Jahrhundert des Rausches. Absinth ist wahrscheinlich heute das Getränk, das am stärksten mit dem 19. Jahrhundert assoziiert wird. Es ist verknüpft mit Van Gogh und den Bildern von Toulouse-Lautrec. Die Weine aus Bordeaux weisen mit der Klassifikation von 1855 noch heute in diese Epoche. Die Literatur von Balzac entstand unter dem maßgeblichen Einfluss von Koffein. Und zu dieser Zeit entstand ein Getränk, welches damals berühmte Liebhaber fand, heute jedoch ziemlich in Vergessenheit geraten ist: der Vin Mariani. Vin_mariani_publicite156

Der korsische Chemiker Angelo Mariani brachte 1863 im Alter von 25 Jahren dieses Getränk auf dem Markt, das sich in den nächsten Jahrzehnten als sehr erfolgreich zeigen sollte. Seine Idee war eigentlich einfach. Er nahm Wein aus dem Bordeaux und extrahierte den Wirkstoff aus darin eingelegten Kokablättern. Selbstverständlich galt dieses Getränk nicht als Droge. Er pries es als Tonikum an – ein Mittel zur Stärkung. Es half angeblich gegen so ziemlich alles. Ein englischsprachiges Werbeplakat formulierte es so: „Popular French Tonic Wine. Fortifies and refreshes body and brain. Restores health and vitality.”

Seine erste werbewirksame Anwendung fand Vin Mariani an einer depressiven Schauspielerin – und von nun an begann der Erfolg. Die gipfelte sicherlich in einer von Papst Leo XIII. verliehenen Goldmedaille – was ebenfalls eine drastische Kurskorrektur der katholischen Kirche darstellte. Hatte die Kurie über Jahrhunderte Koka als vom Teufel kommend verdammt, warb nun Mariani mit dem Gesicht des Papstes für seinen Koka Wein. Auch die Päpste Benedikt XV. und Pius X. waren bekennende Anhänger dieses Getränks. Auch berühmte Persönlichkeiten wie Émile Zola, Victorien Sardou, Henri Rochefort and Charles Gounod standen dem Getränk Pate und warben so für den neuartigen Koka Wein. Der französische Premierminister Jules Méline, der sonst sehr ablehnend gegenüber Alkohol war, war diesem Getränk zugetan. Neben dem russischen Zaren soll auch Königin Victoria von England Vin Mariani genossen haben, nicht nur Rheinwein sollte also ihrer Gesundheit dienen.

Mariani_popeNicht nur in Europa war Vin Mariani ein erfolgreiches Getränk. Von Thomas Edinson weiß man, dass er Vin Mariani schätzte, da er dank dessen länger wach bleiben konnte. Und Ulysses S. Grant, Nordstaaten General und späterer US Präsident, soll laut New York Times Vin Mariani getrunken habem, während er seine Memoiren verfasste. Generell schien das Getränk Bedeutung auf der anderen Seite des Atlantiks gehabt haben. Während ursprünglich der Koka Wein einen Kokainanteil von 211,2 mg/L aufwies, wurde er für den Export auf 253,4 mg/L erhöht. Denn mittlerweile fand das Getränk zahlreiche Nachahmer, besonders in den Vereinigen Staaten, und diese verwendeten einen höheren Anteil von Koka für ihre Produkte.

Der heute sicherlich berühmteste Produzent eines solchen Koka Weines war John S. Pemberton, der Pemberton’s French Wine Coca auf den Markt brachte. Sie unterschied sich von Marianis Wein nur durch die zusätzliche Verwendung der afrikanischen, koffeinhaltigen Kola Nuss. Jedoch erreichte bereits 1885 die Temperenzbewegung, dass in Pembertons Heimat Georgia prohibitive Gesetze erlassen wurden. Also sah er sich gezwungen, eine nichtalkoholische Version zu entwickeln. Diese ist bis heute als Coca-Cola bekannt.

Das Ende des Vin Mariani leitete die europäische Drogenpolitik im frühen 20. Jahrhundert ein. Während noch 1916 bei Harrods ein „A Welcome Present for Friends at the Front“ wie selbstverständlich verkauft wurde, das Kokain und Morphium und dazugehörige Utensilien beinhaltete, änderte sich die Haltung der Politik, nach dem viele Kriegsheimkehrer drogenabhängig von der Front zurückkehrten. In Deutschland endete der Verkauf 1920 mit dem Inkrafttreten eines neuen Opiumgesetzes.

Da Mariani das Wissen um die Rezeptur nicht an seine Erben weitergab, ging die Rezeptur verloren. Heute produziert Christophe Mariani, ein möglicher Nachfahre, in Bolivien erneut einen Vin Mariani und hat Evo Morales als Unterstützer gefunden. Das Getränk basiert auf korsischem Weißwein und bolivianischen Kokablatt Extrakt und hat 16% Alkohol. Auch eine mit Champagner versetzte Version ist auf dem Markt. Mit dem ursprünglichen Produkt hat dies jedoch bis auf Flasche und Etikettendesign nichts mehr zu tun. Ein weiterer Produzent bietet, mit peruanischem Koka, ebenfalls einen Vin Mariani an, der mit Wein aus Bordeaux erzeugt wird. Auch wenn hier behauptet wird, es handele sich um das Original Rezept, allein die 22% Alkohol sprechen dagegen. So wie der Absinth zurückkehrte, kommt auch dieses Getränk wieder. Was heute ein Marketinggag ist, verkörperte im 19. Jahrhundert den Zeitgeist.

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